Zum Inhalt

Probetext

 

   Idee und Maß

 

Zwei Szenarien

Allein gelassen, reiten sich alle großen Ideen zu Tode; Mäßigung finden sie nur in der Begegnung mit etwas Anderem. Das ist ein ehernes Gesetz des Universums.

Der Planet Erde im Sonnen-System der Milchstraße zeigt das sehr anschaulich: Dort hat die Spezies der Menschen – wohl mit leiser Ironie nannte sie sich „Homo sapiens“, ja sogar „Homo sapiens sapiens“ – zunächst sehr unterschiedliche Formen des Zusammenlebens entwickelt und dabei ein recht stabiles Gleichgewicht eingehalten. Das begann sich zu ändern, als man noch einige Jahrhunderte vor Beginn ihrer Zeitrechnung auf den eigenartigen Gedanken kam, dass Geist und Materie nichts miteinander zu tun hätten. Rund 2000 Jahre später wurde dieser Gedanke auf die Spitze getrieben, als die Bewohner eines kleinen, Europa genannten Erdteils begannen, ihren Verstand dem Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Umwelt zu entziehen und statt dessen eine Reihe von abstrakten Erfolgsprinzipien zu entwickeln. Sie nannten diese Epoche „Aufklärung“ und die neue Praxis „Ideen“ oder „Abstraktionen“. Tatsächlich gelang es den Europäern und dann auch ihren Ablegern in Nord-Amerika und anderen Weltgegenden, mit dieser Art des Vernunft-Denkens viel zu bewegen. Wissenschaft und Technik blühten auf, individuelle Menschenrechte und Demokratie wurden entwickelt. Wohl am deutlichsten war der Erfolg am enormen Bevölkerungs-Wachstum ablesbar. So stand innerhalb von drei Jahrhunderten der gesamte Erdball unter den bestimmenden Einfluss dieser „Aufklärung“. Aber: mangels Begegnung mit ähnlich starken Prinzipien maßlos geworden, führte dieses Erfolgsprinzip zur Vernachlässigung der Umwelt und seit der Wende zum dritten Jahrtausend zu immer größeren Umweltkatastrophen.

Gleichzeitig kam eine größere Katastrophe aus dem Bereich, in dem die Abstraktionen am weitesten getrieben wurden, nämlich aus dem Finanzwesen. Dieses hatte in der menschlichen Gesellschaft zwar schon immer eine große Rolle eingenommen, war aber nun derart komplex geworden und von den Bedürfnissen der Menschen entrückt, dass schon ein vergleichsweise nichtiger Anlass seinen Zusammenbruch auslöste. Durch die zentrale Rolle der Finanz wurden umgehend auch alle anderen Tätigkeitsbereiche getroffen, darunter vor allem die über Groß-Organisationen abgewickelte Versorgung dicht besiedelter Regionen mit Nahrung, Energie und Information. Ihr Zusammenbruch hatte Hunger, Chaos und Gewalt zur Folge, dann auch Flüchtlingsströme, Seuchen und noch mehr Gewalt.

Um das Elend voll zu machen, traten dann auch die Anhänger eines anderen, ins Unmaß getriebenen Erfolgsprinzips auf: Religiöse Fundamentalisten jubelten über diese Endzeit-Stimmung, verübten immer schrecklichere Terrorakte, schafften sich Zugriff auf Nuklearwaffen und setzten sie schließlich auch ein. Ein großer Teil der Welt-Bevölkerung ging dabei zugrunde, und auch die wenigen Überlebenden konnten keine Erholung erreichen. Wegen der verseuchten Umwelt samt Klima-Erwärmung waren andere Spezies Gewinner dieser Mega-Katastrophe, nämlich zuerst die Ratten und dann die Termiten.

So ungefähr könnte ein Bericht außerirdischer Wesen über das Schicksal von Erde und Mensch aussehen. Aber zunächst zwei Vorfragen, bevor diese Thematik näher beleuchtet wird: Glauben Sie auch, lieber Leser, dass der konkrete Mensch im Zentrum der Politik stehen soll?

Und soll man sich dann nicht auch dem demokratischen Ideal verpflichten und jede Fremdbestimmung mit all ihren offenen oder verdeckten Formen ablehnen – sei es nun mächtige Ausnahme-Persönlichkeiten, Experten oder Eliten, die sich immer feudalistischer geben und zu Oligarchien mausern? Wenn Sie die beiden Fragen nicht mit einem klaren Ja beantworten können, werden Sie mit „Menschliches Maß“ wenig anfangen können – sparen Sie sich daher die weitere Lektüre dieses Buches und machen Sie sich einen schönen Tag – es könnte ja Ihr letzter sein!

Nach dieser Verabschiedung von Demokratie-Gegnern kehren wir naive Idealisten zurück zum Katastrophen-Szenario: Es mag unserem Bauchgefühl widersprechen, sein Eintritt ist aber nach den Regeln der Vernunft höchst wahrscheinlich; ist es doch die logische Fortschreibung der bisher klar zutage getretenen politischen Trends – und es entspricht ja auch ganz den Erfahrungen der biologischen Evolution mit ihrem Auf und Ab der Spezies.

Der Vernunft zum Trotz muss es aber doch nicht ganz so schlimm kommen. Mit „G.G.“ – das je nach Weltanschauung für gigantisches Glück oder Göttliche Gnade stehen mag – könnte ein zukünftiger, aber durchaus irdischer Bericht über die Folgen der Finanzkrise etwa so ausschauen:

Die 2008 offen zutage getretene Finanzkrise wurde zu einer schweren Dauerkrise, der sich keine Weltgegend entziehen konnte. Zwar wurde ein Total-Absturz des Finanz-Systems verhindert, es gelang aber nicht, Gesellschaft und Wirtschaft wieder auf gesunde Beine zu stellen. Grund dafür war vor allem die Schwäche demokratisch gewählter Regierungen: Sie wussten zwar, dass einschneidende Reformen notwendig waren, die hauptsächlich zu Lasten der Finanzwirtschaft gehen mussten; sie fürchteten aber, den Konflikt mit der übermächtig gewordenen internationalen Hoch-Finanz nicht gewinnen zu können – jedenfalls nicht innerhalb einer Legislaturperiode. Vor allem um ihre Wiederwahl besorgt, verweigerten sie diese Reformen und verausgabten sich weiter mit Symptom-Kuren. Immerhin blieb dabei die öffentliche Sicherheit trotz zahlreicher Ausschreitungen verarmter und arbeitsloser Massen weitgehend aufrecht, was auch die notdürftigste Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Energie und Information ermöglichte.

In dem Maße, wie die Unfähigkeit der Politik zur Entschärfung der Krise immer deutlicher wurde und die allgemeine Stimmung in stille Verzweiflung abrutschte (obwohl sich manchmal einzelne Schwalben statistischen Wachstums zeigten, blieben sie nicht lange genug, um einen Wirtschafts-Sommer verkünden zu können), suchten vor allem Arbeitslose und Globalisierungsverlierer Abhilfe außerhalb etablierter Politik – und wurden bei sich selbst fündig. Sie übernahmen viele Ideen und Methoden der Zivilgesellschaft, wie sie sich mit dem Siegeszug des Internets entwickelt hatte; konkret gingen sie zu Kooperationsmodellen über, bei denen das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorläufig offen bleiben konnte. So gründeten sie die verschiedensten Tauschkreise und darauf aufbauend bald auch Alternativ-Währungen in der Form zinsfrei zirkulierender Gutscheine. Zunächst konnte mit diesen primitiv anmutenden Methoden nur ein Überleben auf sehr bescheidenem Niveau erreicht werden. Nach einiger Zeit änderte sich das jedoch überraschend schnell zum Besseren als Folge zweier Entwicklungen:

Zum einen zog man aus dem distanzierten, aber leidlich funktionierenden Nebeneinander von Finanz- und offener Tauschwirtschaft die richtigen Schlüsse: Jedes der beiden Systeme hatte seine besonderen Stärken und Schwächen. So entwickelte sich allmählich ein konstruktives Spannungsverhältnis. Weil dies den menschlichen Bedürfnissen offenbar bestens entsprach, entdeckte man bald auch den Reiz, in gleicher Weise mit anderen übersteigerten Erfolgs-Prinzipien umzugehen: Man setzte auch sie in ein Spannungsverhältnis mit anderen Prinzipien, die auf den ersten Blick konträr zu sein schienen, tatsächlich aber sich ergänzten: Markt-Versorgung mit kooperativer Eigen-Versorgung, kapitalintensive Hoch-Technologie mit arbeitsintensiver „mittlerer“ Technologie, global mit lokal, Wachstum mit Fließgleichgewicht, Toleranz mit Identität, repräsentative mit direkter Demokratie – aber auch Demokratie mit Hierarchie. Dabei steckte in fast allen dieser Spannungsverhältnisse der Gegensatz zwischen linearer Effizienz und ganzheitlicher Robustheit (Resilienz).

Kurz, die praktischen Vorteile des Menschlichen Maßes wurden mehr und mehr überschaubar und erleichterten damit die politischen Entscheidungen.

Zum anderen entdeckte man die schon vergessen geglaubte Ur-Freude an Selbst-Geschaffenem und an der Freiheit von undurchschaubaren Strukturen. Ein Geist der Verbundenheit machte sich unter den Anhängern dieser Einstellung breit, der bald auch nach außen ausstrahlte: Wo diese Freude auftauchte und die allgemeine Düsternis der Dauerkrise so deutlich durchbrach, regte sie immer mehr Menschen zur Nachahmung an – jeder wollte nun mehr singen und lachen, mit seinen Nachbarn im großen Palaver lang und theatralisch debattieren, Kinder um sich haben, gut gärtnern, kochen und essen sowie besseren Sex haben – und mit dem Menschlichen Maß war das alles durchaus möglich geworden!

Spätestens jetzt muss klargestellt werden, dass apokalyptische Katastrophen mit anschließender langer Dauerkrise nicht nur aus einem exzessivem Finanzwesens heraus entstehen können. Genauso möglich ist, dass Cybercrime, Terror oder auch nur die Dummheit von Akteuren andere Bereiche höchster Komplexität wie das Internet oder den internationalen Strom-Verbund zum Entgleisen bringen – wobei als krasse Dummheit auch gelten muss, wo man glaubt in fernen Regionen „begrenzte Kriege“ beginnen zu können.

Wie auch immer, ich bin überzeugt, die Bedrohung der Menschheit liegt heute in der Maßlosigkeit dessen, was sie als ihre großen Ideen und Erfolgsprinzipien ansieht; und wirklich menschenwürdig kann ein Überleben nur sein, wenn wir den überall wehenden Geist der Verbundenheit wieder finden und stärken; er ist es ja, der Qualität über Quantität stellt und Kooperation über Wettbewerb; und der damit den Weg zu gelungenem Leben weist. Damit sich dieser Geist entfalten kann, braucht er jedoch äußere Strukturen, die im Rahmen des Menschlichen Maßes liegen. Daher muss es zuerst darum gehen, eine praktikable Methode zu entwickeln, die solche Strukturen fördert. Das gelingt am besten, wo wir uns ein überschaubares Umfeld schaffen. Es ist aber auch dort möglich, wo wir darüber hinaus gehen müssen und uns nun an abstrakten Erfolgsprinzipien orientieren, solange wir diese Prinzipien in einem lebendigen Spannungsverhältnis halten; wo wir also Erfolgsprinzipien mit ihren gegensätzlichen, sich aber ergänzenden Prinzipien konfrontieren und dann versuchen, beide in konkreten Situationen im Gleichgewicht zu halten.

Wie rasch dieser Weg sich auch durchsetzen kann, ist freilich eine andere Frage. Horror-Szenarien werden die Menschen wohl kaum dazu veranlassen können. Auch auf die Politik – also auf „von oben“ verordnete Maßnahmen – wird man kaum warten wollen. Wie gesagt, vor die Wahl gestellt zwischen etwas Neuem, dessen positive Wirkung erst nach den nächsten Wahlen allgemein sichtbar wird, und eingefahrenen Praktiken des puren Machterhalts, werden sich Politiker regelmäßig für Letzteres entscheiden. Die Umkehr muss daher „von unten“ kommen, anfangs ganz an der Politik vorbei und klein, dabei ganz auf sich selbst gestellt; soll es das Erleben von schöpferischer Freude sein, das den Durchbruch schafft: Aus den ersten Erfolgserlebnissen der Arbeitslosen, „dem System“ ein Schnippchen geschlagen zu haben, soll sich die Aussicht auf ein „gutes Leben“ entwickeln – denn genau das ist ja durchaus in Reichweite wirklich selbst-bewusster Menschen. Ist dieser Wagen einmal gut in Fahrt, kann man sicher sein: die Politiker werden sich sogleich aufs Trittbrett schwingen und gerne die notwendigen legistischen Maßnahmen ergreifen.

Nun kann ich auch zum Zweck dieses Buches kommen: Wie gesagt, wird bis zum allgemeinen Wirksamwerden des Menschlichen Maßes wohl „einige Zeit“ vergehen müssen. Dass dieser Zeitraum möglichst kurz bleibt und auch für den Fall des Zusammenbruchs aller gängigen Finanzsysteme ein Sicherheitsnetz da ist – dafür soll hier ein Beitrag geleistet werden. Ich bin auch überzeugt, dass dies schneller geht, und das Vertrauen in den Geist der Verbundenheit rascher hergestellt sein wird, als es sich die meisten „Realisten“ unserer Zeit vorstellen können.

menschliches-mass.com (c) by Michael Breisky 2015